headerbild
Logo RefBeJuSo

Asyl: Leben im Schwebezustand

Noch immer erreichen besonders viele Asylsuchende die Schweiz. Häufig sind sie schwer traumatisiert. Sie nur auf ihre Schutzbedürftigkeit zu reduzieren, sei aber falsch, meint die reformierte Asylseelsorgerin Beatrice Teuscher im Gespräch mit ref.ch.

Vor dem grauen Block sammeln zwei Männer in orangen Westen Abfälle ein. «Dort liegt noch ein Zigarettenstummel», sagt eine Frau in einer blauen Weste zu einem der Männer. Sie arbeitet für die Firma ORS, die das Bundesasylzentrum im ehemaligen Zieglerspital von Bern betreibt. Die beiden Männer wohnen im Zentrum und durchlaufen dort ihr Asylverfahren. Nach einigen Monaten erfahren sie vom Staatssekretariat für Migration (SEM), ob sie in der Schweiz bleiben dürfen oder nicht – für die meisten Asylsuchenden ist es eine beklemmende Zeit. Mit Beatrice Teuscher können sie darüber sprechen. Seit sieben Jahren arbeitet sie als reformierte Asylseelsorgerin im Zieglerspital. Das Büro des Seelsorgeteams befindet sich wie die Mensa, das Spielzimmer und der Gebetsraum im unteren Stockwerk. Bunte Wände und Türen kontrastieren mit der grauen Fassade des Gebäudes. Seit der Umnutzung des ehemaligen Zieglerspitals im Jahr 2016 hat das SEM viel Aufwand betrieben, um eine wohnlichere Atmosphäre zu schaffen. Das Büro von Teuscher und ihrer katholischen und muslimischen Kollegen ist klein. In der Mitte des Raums steht ein runder Holztisch. An ihm sprechen die Menschen mit Teuscher über die bewaffneten Konflikte, die (sexualisierte) Gewalt oder die Verfolgung, die sie erlebt haben. «Die existenziellen Probleme, mit denen ich konfrontiert werde, sind extrem», sagt Teuscher. Viele Frauen, mit denen sie im vergangenen Jahr zu tun hatte, wurden Opfer von Menschenhandel. «Sie waren schwer traumatisiert und orientierungslos», sagt Teuscher. Auch Trauer sei ein wiederkehrendes Thema in den Gesprächen. Viele Asylsuchende sind seit Langem von ihren Familien getrennt.

Zusätzliche Zentren sorgen für Entlastung


Verschiedene Krisen und das Ende der Corona-Reisebeschränkungen haben laut SEM dazu geführt, dass derzeit wieder besonders viele Menschen in Europa und in der Schweiz Schutz suchen. Unter ihnen sind zahlreiche Personen aus Afghanistan und der Türkei. Im Herbst 2022 stieg die Zahl der Asylgesuche auf über 3000 pro Monat an. Zusätzlich flohen aufgrund des russischen Überfalls auf die Ukraine Zehntausende Ukrainerinnen in die Schweiz. «Wir wurden komplett überrannt und waren überfordert», sagt Teuscher. In diesem Jahr rechnet das SEM mit rund 27'000 Gesuchen – im bisherigen Rekordjahr 2015 waren es knapp 40'000. Auffällig ist die hohe Zahl von Asylsuchenden, die minderjährig und unbegleitet sind. 2022 machten sie 10 Prozent aller Gesuchsteller aus. Im Zieglerspital sind viele von ihnen untergebracht. Zu traumatischen Fluchterlebnissen gesellen sich bei ihnen gewöhnliche Entwicklungsfragen. Trotz des anhaltenden Drucks im Asylsystem hat sich gemäss Täuscher die Situation im Zieglerspital in den letzten Monaten etwas entspannt. Das hängt damit zusammen, dass der Bund weitere Zentren eröffnet hat, im Kanton Bern etwa in Thun. «Mehr Rückzugsmöglichkeiten wirken sich positiv aus auf die Stimmung der Asylsuchenden», sagt Teuscher. Dadurch nimmt auch das Konfliktpotenzial in den Zentren ab. Da die neuen Zentren jedoch ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich von Teuscher und ihrer Kollegen fallen, bleibt ihr Arbeitsaufwand hoch. Sie teilen sich zu viert knapp zwei Vollzeit-Stellen und betreuen fünf Zentren – Teuscher findet das wenig für Orte, an denen sich so viele Menschen in einer Krise befinden.

Andere Zentren, anderer Charakter

Im Zieglerspital herrscht ein Kommen und Gehen, den meisten Menschen ist das Angebot der Kirchen unbekannt. Häufig ist Teuscher deshalb in den Gängen und Räumlichkeiten unterwegs, spricht Asylsuchende an und stellt sich vor. Aufsuchende Seelsorge nennt sich das. Am Haupteingang des Asylzentrums wird Teuscher auf einen Mann aufmerksam, den sie bereits zu kennen scheint. «Werden Sie heute angehört?», fragt sie ihn. Der Mann verneint. In den nächsten Tagen werde er die Schweiz verlassen und in Richtung Frankreich reisen. Schon früher war er einmal in Bern. Chancen auf Asyl hat er aufgrund seiner Herkunft jedoch keine. Teuscher wünscht ihm alles Gute – im Wissen, dass er sich auf einer endlosen Odyssee durch Europa befindet. Längst nicht alle Gespräche drehen sich um existenzielle Fragen. Häufig sind es kurze, alltägliche Interaktionen und Gesten. Auch sie vermitteln den Asylsuchenden das Gefühl, wahrgenommen zu werden. Ansonsten hält sich der Kontakt der Asylsuchenden mit der Schweizer Bevölkerung in Grenzen. Das hat mit dem revidierten Asylgesetz zu tun, das im März 2019 in Kraft trat. Aufgrund der kürzeren Asylverfahren und der Unterbringung in Bundesasylzentren ergeben sich weniger Begegnungsmöglichkeiten. Das zeigt sich bereits am Eingang des Zieglerspitals: Securitas wachen darüber, dass nur Bewohner und Mitarbeiter das Zentrum betreten und verlassen. Externe Personen benötigen eine Erlaubnis des SEM, um das Zentrum zu besuchen. Verglichen mit anderen Zentren sei die Situation in Bern jedoch gut, sagt Teuscher. «Es sind viele Faktoren, die den Charakter eines Zentrums ausmachen, zum Beispiel der Standort, das Gebäude oder die Leitung.» Das Zieglerspital ist mitten in der Stadt, verfügt über ein Café, ein Atelier und Spielangebote. Auch bei den Öffnungszeiten hebt es sich von anderen Zentren ab. Freiwillige bieten zudem Deutschkurse an. Abgelegene Zentren seien in dieser Hinsicht im Nachteil, sagt Teuscher.

Das neue Asylverfahren

Früher mussten Asylsuchende zum Teil jahrelang auf eine Entscheidung warten. Fiel sie negativ aus, mussten sie das Land auch dann verlassen, wenn sie bereits eine Landessprache beherrschten, einer Arbeit nachgingen und soziale Kontakte geknüpft hatten. Um solchen Situationen vorzubeugen, trat im März 2019 das revidierte Asylgesetz in Kraft. Dieses hatte zum Ziel, die Dauer der Verfahren auf 140 Tage zu verkürzen. Das sollte gelingen, indem alles unter demselben Dach geschieht: die Unterbringung, das Verfahren und eine unabhängige Rechtsberatung. Nur bei komplizierteren Fällen werden die Asylsuchenden noch während des Verfahrens auf Unterkünfte der Kantone verteilt. Ansonsten erfolgt eine kantonale Zuteilung erst nach einem positiven Asylentscheid oder einer vorläufigen Aufnahme. Zurzeit arbeitet das SEM wieder an einer Revision des Asylgesetzes. In der Vorlage, die es in die Vernehmlassung geschickt hat, wird die Seelsorge neuerdings an einen Sicherheitsauftrag gekoppelt. Das hat bei den Kirchen und beim Verband Schweizerisch Jüdischer Fürsorgen für Kritik gesorgt.

Nach der Flucht wartet die nächste Hürde

Sie bedauert diesen Umstand. Er trage zum gesellschaftlichen Glauben bei, dass Asylsuchende in erster Linie eine Last seien – für Teuscher eine einseitige Perspektive. «Die Asylsuchenden möchten so schnell wie möglich mit der Gesellschaft in Kontakt kommen und etwas zu ihr beitragen», sagt sie. Regelmässig äusserten sie in den Gesprächen mit ihr den Wunsch, Deutsch zu lernen und eine Arbeit zu finden. Arbeitseinsätze in den Bundesasylzentren seien heiss begehrt. Doch die Hürden für eine Integration sind hoch. Es fange dabei an, dass Freiwillige nur eingeschränkt Zugang zu den Bundesasylzentren hätten, sagt Teuscher. Häufig seien sie es, die den Asylsuchenden bei den Bewerbungen helfen. Darüber hinaus erschwerten die fehlende Anerkennung von Diplomen oder hohe Anforderungen an die Sprachkenntnisse den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Dabei, ist Teuscher überzeugt, bringen Flüchtlinge viele Talente mit sich. «Sie mussten sich in äusserst schwierigen Situationen zurechtfinden und haben dabei eine Art Weisheit entwickelt», sagt sie. Davon könnte unsere Gesellschaft viel lernen. Auf dem Weg nach draussen grüsst Teuscher einen der beiden Männer, die zuvor im Eingangsbereich Abfälle eingesammelt haben. Er freue sich, dass er wieder etwas zu tun habe, sagt er auf Deutsch. Teuscher erzählt, dass er jeden Tag kurz bei ihr vorbeikomme, um sich mit ihr auszutauschen.

Quelle: www.ref.ch, Fabio Peter, 21. August 2023