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Gesamtkirchgemeinde: «Die Thuner Kirche ist ein Dinosaurier im Digitalzeitalter»

Die Reformierte Gesamtkirchgemeinde gleiche einem «Dinosaurier im Digitalzeitalter», sagt Ruedi Jenni, Kirchgemeinderatspräsident im Lerchenfeld, der sich deshalb um deren Reform bemüht.

Seit 25 Jahren wohnt Ruedi Jenni im Thuner Lerchenfeldquartier und präsidiert nun im sechsten Jahr den Kirchgemeinderat der dortigen Kirchgemeinde. Für den 70-Jährigen ist klar, dass die heutige reformierte Thuner Kirche «zu gross und zu träge ist». Angesichts der rückläufigen Zahl der Mitglieder und des schwindenden Interesses an der Kirche lasse sich «der komplizierte Apparat mit einer Gesamtkirchgemeinde und fünf teilautonomen Kirchgemeinden nicht mehr finanzieren», betont Jenni.

So ist die Thuner Kirche organisiert

In Thun gibt es die fünf Kirchgemeinden Thun-Stadt, Thun-Strättligen, Lerchenfeld, Goldiwil-Schwendibach und die Paroisse française, die alle französischsprachigen Reformierten vom Oberland bis ins Emmental umfasst. Jede Gemeinde hält ihre Versammlungen ab und wird von einem Rat geleitet. Zusammen bilden diese fünf Gemeinden die Gesamtkirchgemeinde Thun. Die Gesamtkirchgemeinde, die für die Finanzen, Gebäude und das Personal aller Kirchgemeinden zuständig ist, unterstu?tzt die Kirchgemeinden in der Ausu?bung ihrer Aufgaben und steht hierarchisch auf derselben Stufe wie die Kirchgemeinden. Sie setzt sich aus dem Kleinen Kirchenrat als exekutivem Führungsorgan und dem Grossen Kirchenrat zusammen. Letzterer ist das Kirchenparlament, das unter anderem über Steuern und Reglemente befindet und die Exekutive wählt. Im Grossen Kirchenrat hat jede Kirchgemeinde mindestens zwei Sitze. Die übrigen Mandate werden «nach dem Grundsatz des Verhältniswahlverfahrens und der Zahl Kirchenmitglieder», wie es auf der Website heisst, auf die Kirchgemeinden verteilt. Jene von Thun-Stadt und Thun-Strättligen verfügen derzeit über jeweils elf Sitze im 30 Mitglieder zählenden Kirchenparlament, während die anderen Gemeinden mit lediglich zwei Mitgliedern vertreten sind. Zwei Sitze sind zur Zeit vakant.

Nicht der erste Anlauf

Ruedi Jenni, der früher Prüfungsleiter im Mittelschul- und Berufsbildungsamt des Kantons Bern war, vergleicht das Konstrukt mit «einem Dinosaurier im Digitalzeitalter». Daher müsse jetzt «mindestens der ‹Reset-Knopf› gedrückt werden», meint Jenni. Den Anstoss gegeben habe einerseits der generelle Sparauftrag des Kleinen Kirchenrates an die Kirchgemeinden, der diese in grosse Existenznot bringt (siehe Kasten unten), und zudem die vorherigen Bemühungen um strukturelle Anpassungen der Gesamtkirchgemeinde Thun. Diese liefen unter dem Titel «Seeparkgespräche» über lange Zeit und sind nach Angaben Jennis im vergangenen Jahr ergebnislos gescheitert. Das habe ihn «aufgerüttelt», erklärt der Lerchenfelder Kirchgemeinderatspräsident. Jenni ist von Amtes wegen Mitglied der Präsidentenkonferenz der fünf Kirchgemeinden. Das Gremium, das normalerweise koordiniert und Themen vorab berät, wurde kürzlich nun selber aktiv und setzte eine Arbeitsgruppe ein. Dies mit dem Ziel, «Ideen für ein attraktives, zukunftsfähiges und nachhallendes Gemeindeleben zu entwickeln», wie es heisst. An erster Stelle steht laut Jenni die Frage nach den Inhalten: «Was wollen wir eigentlich?» Danach erst sei die Frage nach den Strukturen zu klären: «Was braucht es dazu, und wie machen wir es?» So umreisst Jenni die Aufgabenstellung für das Gremium, welches er gemeinsam mit Benjamin Müller von der Fachstelle Soziale Arbeit leitet.

«Sündenfall» beheben

Der Präsidentenkonferenz steht mit Heinz Leuenberger der Präsident des Kirchgemeinderats Thun-Stadt vor. Er sei «sehr positiv eingestellt» gegenüber den Reformbemühungen, sagte Leuenberger auf Anfrage. Die kirchlichen Strukturen müssten unbedingt vereinfacht werden. Denn die Gesamtkirchgemeinde sei wie der schwerfällige Gemeindeverband, den es so ja auch nicht mehr gebe, meint der ehemalige Thuner SP-Gemeinderat. Sogar Richard Bäumlin, der als Staatsrechtsprofessor in den 60er-Jahren die Gesamtkirchgemeinden Bern, Biel und Thun geschaffen hat, habe sein eigenes Konstrukt rückblickend als «Sündenfall» bezeichnet, so Leuenberger. Deshalb ist für den vormaligen Pfarrer Leuenberger klar: «Wir wollen wieder eine Kirchgemeinde Thun mit einem Rat und einer Verwaltung sowie verschiedenen Kompetenzzentren werden.»

Offen für Experimente

So klar steckt Heinz Leuenberger die Zielsetzung für das Reformvorhaben ab. Inhaltlich nicht vorgreifen will hingegen Ruedi Jenni. Er macht jedoch klar, dass die Arbeitsgruppe bis im Mai ihre Vorschläge und Ideen der Präsidentenkonferenz vorlegen will, damit die dann ihre Anträge an den Kleinen Kirchenrat formulieren kann. «Es gibt nicht die Lösung», erklärt dazu Ruedi Jenni. «Wir sind bereit, experimentell vorzugehen.» Der Kirchgemeinderatspräsident verweist diesbezüglich auf das im Lerchenfeld laufende Reformprojekt, das ein «Vorläufer sein könnte für das grosse Ganze».

Finanzvorgaben sorgen für Unmut

«Wir warten auf die Resultate und werden uns erst dann äussern»: Das erklärte auf Anfrage Willy Bühler, Präsident des Kleinen Kirchenrates, zu den Reformbemühungen. Auch nicht äussern wollte er sich zum Sparauftrag des Kleinen Kirchenrats an die Kirchgemeinden. Dazu wurden im Januar im Grossen Kirchenrat auch zwei parlamentarische Vorstösse von der Fraktion Strättligen und von Heinz Leuenberger, dem Präsidenten des Kirchgemeinderats Thun-Stadt, eingereicht. Beide Begehren zielen darauf ab, im Budget 2022 die sogenannt freie Quote beizubehalten. Mit diesem Geld finanzieren die Kirchgemeinden ihre kirchlichen Aktivitäten. Nach den bereits Ende 2020 von der Exekutive gemachten Vorgaben würde der Freibetrag für Strättligen auf einen Zehntel der Quote fürs laufende Jahr zusammenschrumpfen, im Fall der Stadt würde noch ein Drittel zur Verfügung stehen. In etwa gleich gross ist die geplante Kürzung im Lerchenfeld. Er sei sich bewusst, dass mit der verbleibenden freien Quote die Kirchgemeinden «kein adäquates Gemeindeleben mehr finanzieren können», hielt der Kleine Kirchenrat zu seinem Vorschlag fest. Aus diesem Grund will der Rat darüber diskutieren, wo Einsparungspotenzial bestehe oder Mehreinnahmen generiert werden könnten. Diese Haltung symbolisiert für Heinz Leuenberger die «Trennung von Geld und Geist», die heute in der reformierten Thuner Kirche bestehe. Als Mitglied des Grossen Kirchenrates möchte Heinz Leuenberger die Einzelkirchgemeinden mit seinem Vorstoss aber ebenso dazu verpflichten, «umsetzbare Einsparungen aufzugleisen». Der Ex-Pfarrer denkt vorab an die Kürzung von Stellenprozenten bei Kündigungen oder Pensionierungen und den Verzicht auf Liegenschaften. Nach Auffassung Leuenbergers ist heute «der Leidensdruck so gross», dass eine Erneuerung und Vereinfachung der Kirchenstrukturen unumgänglich werde. Diese schwerfällige Struktur der reformierten Thuner Kirche lag auch der Diskussion um die Johanneskirche vor ein paar Jahren zugrunde. Damals kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen der Kirchgemeinde Strättligen, die dort kirchlich tätig ist, und dem Kleinen Kirchenrat, dem das Gotteshaus «gehört». In einer Urnenabstimmung lehnte das Thuner Kirchenvolk 2018 die geplante Entwidmung und damit eine allfällige Umnutzung des Gotteshauses ab.

«Wer zu spät kommt…»

Nach Angaben des reformwilligen Vorstehers einer der Thuner Teilkirchgemeinden geht es dabei darum, «kirchliche Angebote an die heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen anzupassen». Denkbar sei etwa, Gottesdienste am Freitag- oder Samstagabend abzuhalten statt stets am Sonntag. Letzteres sei zwar Tradition, «die aber auch durchbrochen werden kann und nicht in Stein gemeisselt ist», wie Ruedi Jenni erklärt. Denn: Entweder rauften sich die Thuner Kirchgemeinden zusammen oder der «Jahrhundertsatz ‹Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben› könnte für uns zur bitteren Realität werden».

Quelle: thunertagblatt.ch, 15.04.2021, Andreas Tschopp