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Armut in der Schweiz: Mit Migros-Gutscheinen die Not lindern

Vor den Feiertagen klopfen vermehrt Bittstellende an den Türen der Pfarrhäuser an. Mit Gutscheinen oder Geld leisten Pfarrpersonen Soforthilfe. Nicht jede Geschichte, die sie zu hören bekommen, ist glaubwürdig.

Menschen in Not mit etwas Geld oder einer warmen Mahlzeit zu helfen, hat in der reformierten Kirche Tradition. Bereits der Reformator Zwingli liess täglich Suppe in die Predigerkirche bringen, um die Armen zu speisen. Bis heute sind Kirchen und Pfarrhäuser beliebte Anlaufstellen für Bedürftige, um Lebensmittel oder etwas Bargeld zu bekommen. Auch an die Pfarrhaustür von Uwe Kaiser klopfen regelmässig Bittstellende. «Jede Woche melden sich bei mir fünf bis sieben Bedürftige, entweder telefonisch oder direkt an der Haustür», sagt der Pfarrer der Friedenskirche in Olten im Gespräch mit ref.ch. In den kommenden Wochen könnten es noch mehr werden. «Vor den Festtagen ist die Nachfrage immer besonders gross.» Um diese Personen zu unterstützen, steht dem Pfarrer eine Hilfskasse zur Verfügung. Diese wird durch Spenden gefüllt, die Kirchgemeinde stellt eine Basis von 500 Franken zur Verfügung. Das reiche natürlich nirgendwo hin, sagt Kaiser. «Mehr als 20 oder 30 Franken für das Nötigste kann ich nicht geben. Für höhere Beträge muss ich die Leute an das Sozialamt verweisen.»

Sammeltour von Pfarrer zu Pfarrer

Es sind ganz unterschiedliche Menschen, die bei Kaiser Hilfe suchen. Oft handelt es sich um Fahrende aus der Schweiz oder Durchreisende aus anderen Ländern. Gelegentlich kommt jemand aus der Gemeinde, der in finanzielle Not geraten ist. Hier kann der Pfarrer grosszügiger sein, denn für diese Personen ist der Fonds bestimmt. An der Tür hört Kaiser die verschiedensten Geschichten. Meistens bleibe nicht die Zeit, um zu prüfen, wie viel Wahrheitsgehalt darin stecke. In der Gesamtkirchgemeinde spreche man sich ab, um zu verhindern, dass die gleichen Bittsteller bei verschiedenen Pfarrämtern anfragen. «Oft lässt sich das aber nicht vermeiden, da das Anliegen der Bittstellenden immer sehr dringend ist», sagt Kaiser. Regelmässig Besuch von Bittstellenden erhält auch der Winterthurer Pfarrer Mike Gray. Geld bekommen sie bei ihm allerdings in der Regel nicht. «Ich habe für solche Fälle immer einen Stapel 10 Franken-Migros-Gutscheine bei mir zuhause – auch um zu verhindern, dass das Geld direkt für Alkohol ausgegeben wird», sagt Gray. Obwohl sein Pfarrhaus nicht in der Nähe der Kirche liegt, hat er ein festes «Klientel», wie er sagt. Insbesondere drei ältere Männer tauchen alle paar Wochen bei ihm auf. «Das sind Leute, die von Pfarramt zu Pfarramt gehen. Weil ihre Not aber echt ist, habe ich damit kein Problem», sagt Gray. Oft sind es ausländische Personen oder Schweizer mit einer bescheidenen IV-Rente, die um Hilfe bitten. Vorsicht geboten sei, wenn sich Leute telefonisch meldeten und grössere Summen verlangten, sagt Gray. Diese Personen müsse er an die Sozialdiakonen der Kirchgemeinde verweisen. Einige Geschichten seien auch dubios. «Zum Beispiel gibt es eine Frau, die mich einmal im Jahr anruft, immer die gleiche Geschichte erzählt und 300 Franken verlangt. Wenn ich ihr dann Gutscheine anbiete, kommt sie erst gar nicht vorbei», sagt Gray.

Geld für Zugbilletts und Windeln

Zwar sind besonders in Städten kirchliche Anlaufstellen geschaffen worden, um die Bettelei an der Pfarrhaustür einzudämmen. In Zürich zum Beispiel können Pfarrpersonen Bedürftige an das Café Yucca verweisen, eine Einrichtung der Stadtmission, wo sie eine warme Mahlzeit und professionelle Beratung erhalten. Vielerorts leisten Pfarrerinnen und Pfarrer aber weiterhin Hilfe an der Tür. Der Entscheid, ob eine Person unterstützt werden soll, fällt dabei nicht immer leicht. Hans-Ulrich Richwinn, Pfarrer in der Bündner Kirchgemeinde Zizers, sagt: «An der Haustür muss ich schnell entscheiden, ob eine Geschichte glaubwürdig ist. Letztlich ist es eine Vertrauensfrage.» Richwinn hat auch schon erlebt, dass er beinahe übers Ohr gehauen wurde. «Einmal sollte ich eine Krankenhausrechnung für ein schwerkrankes Kind bezahlen. Es hat sich dann herausgestellt, dass diese Geschichte gar nicht stimmte.» Solche Fälle seien aber selten. «Oft geht es den Bettelnden um ganz konkrete Bedürfnisse wie Geld für ein Zugbillett oder Windeln für die Kinder», sagt Richwinn.

Nur ein Tropfen auf den heissen Stein

Meist sind es kleinere Beträge zwischen 20 und 50 Franken, mit denen der Pfarrer Hilfesuchende unterstützt. Auch zu Richwinn kommen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund – darunter Fahrende oder bedrängte Familien. Die grösste Gruppe seien Personen aus Osteuropa, die sich in der Schweiz Arbeit und ein besseres Leben erhofften. «Gerade bei diesen Menschen sind 50 Franken aber nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein», sagt Richwinn. Wichtig findet er, dass Pfarrpersonen gegenüber Bedürftigen nicht paternalistisch auftreten. Denn Betteln sei sehr schambehaftet. «Die meisten Menschen wollen nicht betteln und bieten daher Arbeit oder Sachen zum Verkauf an. Man sollte diese Leute nicht zusätzlich beschämen, indem man sie von oben herab behandelt», sagt Richwinn.

Quelle: www.ref.ch, 23. November 2022, Heimito Nollé