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Berner Oberland: Der Glockenklang weckt Emotionen – so oder so

Kirchgemeinden in der Region handhaben das Schlagen und Läuten ihrer Kirchenglocken unterschiedlich. Auf «Lärmklagen» sind die Verantwortlichen sensibilisiert.

«Pro Tag schlugen die Glocken mehr als 800-mal. Es war nicht mehr auszuhalten.» Die Worte stammen von einem Anwohner der Johanneskirche im Thuner Dürrenastquartier. Er machte die Aussage im Jahr 2004. Damals war in der Nachbarschaft eine heftige Kontroverse über die Lautstärke und die Regelmässigkeit des Glockenschlags im Gang. Es gab durchaus auch Fürsprecherinnen und Fürsprecher für den Glockenklang, dennoch wurde der Betrieb versuchsweise stark reduziert. Doch dazu später mehr.

Frühes Läuten am Sonntagmorgen gestrichen

Die Episode zeigt, dass die von Kirchenglocken ausgesandten Töne von den einen als wohltuend und «heimelig», von anderen als störend oder gar als Lärm empfunden werden können. Wie gehen Kirchgemeinden im Berner Oberland mit der Ausgangslage um? In der römisch-katholischen Heiliggeistkirche nahe der Höhematte in Interlaken ertönt der Glockenschlag beispielsweise lediglich zur vollen Stunde, wie Gemeindeleiter Thomas Frey erklärt. Zu hören sind die total vier Glocken zudem unter anderem jeweils fünf respektive zehn Minuten lang vor Gottesdiensten. Dass die Töne irgendjemandem nicht passen, ist Frey bislang nicht zu Ohren gekommen. Im Gegenteil: «Die Glocken haben eine Tradition, die von vielen geschätzt wird – auch von Menschen aus anderen Kulturen.» Der Diakon spricht etwa von Touristinnen und Touristen aus dem arabischen oder indischen Raum, die durchaus mit Neugier und Interesse auf das für sie ungewohnte Geläut reagieren würden.

Eine Kirche mit einer reichhaltigen Geschichte ist jene in Gsteig. Das im 12. und 13. Jahrhundert gebaute Gotteshaus verfügt über vier Glocken aus vier verschiedenen Jahrhunderten (die neuste aus dem Jahr 1965), die allesamt immer noch zum Einsatz kommen. In Gsteig erfolgt der Glockenschlag viertelstündlich – und dies während 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr. Ausserdem läuten die Glocken vor Gottesdiensten, aber auch zu den täglichen Gebetszeiten um 11 und 15 Uhr sowie am Samstagabend. «Gestrichen haben wir das Läuten am Sonntagmorgen um 7 Uhr», sagt Peter Hiltbrand, seit der Reformation der 30. Pfarrer im Pfarrkreis Gsteig der reformierten Kirchgemeinde Gsteig-Interlaken. Auf die Frage, wann es letztmals negative Reaktionen gegeben habe, meint Hiltbrand: «Das muss schon fast zehn Jahre her sein.» Damals existierte noch das sonntägliche 7-Uhr-Geläut – und der Glockenstuhl sei noch nicht revidiert gewesen. «Die Klöppel werden mit dem Alter spröder, was beim Aufprall auf die Glocke einen lauteren Ton zur Folge hat», erklärt der Pfarrer. Daher müssten die Glockenstühle regelmässig gewartet oder auch mal ersetzt werden. In Gsteig sei dies vor etwa fünf Jahren das letzte Mal passiert. Die Revision hat sich laut Hiltbrand gelohnt. Obschon der Glockenklang je nach Windrichtung bis vorne auf dem Bödeli zu hören ist, sei das Geräusch nicht wirklich laut. Auch aus den nahe gelegenen Hotels in Wilderswil habe man keine Reklamationen gehört. Diskutiert worden ist ein anderes Glockenschlag-Intervall im Pfarrkreis durchaus schon, «aber wir sind letztlich immer zum Schluss gekommen, dass diese ‹Emission› nicht zu störend ist», so Hiltbrand. «Zudem würde etwas fehlen. Es wäre ein Stück Leben, das verloren ginge.»

«Etwas Tröstliches und Stützendes»

Ziemlich ähnlich umschreibt ihre Gefühle Hiltbrands Berufskollegin Rebekka Grogg. «Das Geläut berührt mich. Bei einer Beerdigung zum Beispiel hat der Glockenklang etwas Tröstliches und Stützendes», sagt die Pfarrerin der reformierten Kirchgemeinde Thun-Stadt. Schon als Kind habe sie in Mühleberg im Umfeld einer Kirche gelebt, beim Mittagsglockenschlag habe sie jeweils gewusst, dass sie vom Spielen heimkehren müsse. Als Teenager – und Nachtmensch – habe sie sich zunächst ein wenig am Glockenschlag gestört, lernte aber sehr rasch, damit umzugehen. Es ist der Rat, den Grogg auch denjenigen erteilt, die sich an diesen Tönen stören. «Ich bin überzeugt, dass man das ausblenden kann, wenn man will, und die Glocken mit der Zeit gar nicht mehr bewusst wahrnimmt.» Zudem sei es auch ein wenig Einstellungssache, ob man das Ganze als Störfaktor ansehe oder nicht. «In den meisten Fällen stehen die Kirchen schon deutlich länger da als die Häuser darum herum», gibt Grogg zu bedenken. Die Stadtkirche, die über der Thuner Innenstadt thront, verfügt über fünf Kirchenglocken. Bei ihrer Anwendung unterscheidet Rebekka Grogg zwischen dem Schlagen und dem Läuten. Ersteres dient der Zeitangabe und «hat mit der Kirche eigentlich nichts zu tun». Bei der Stadtkirche erfolgt der Schlag ebenfalls viertelstündlich während 24 Stunden. «Eine religiöse Bedeutung hat hingegen das Läuten», so die Pfarrerin. Eine spezielle Läutordnung definiert, wann und mit welchen Glocken zum Abendgebet oder zum Gottesdienst «geladen» wird. Am Samstagabend wird zudem während einer Viertelstunde der Sonntag eingeläutet. Überdies ist beispielsweise das Geläut bei einer Hochzeit nicht dasselbe wie jenes bei einer Abdankung. Und einzig vor dem Gottesdienst am Morgen des Karfreitags ertönt die tiefste Glocke allein.

Keine Reklamationen bei Spital und Stadt

Wen die Kirchenglocken stören, dem sind diese Unterscheidungen womöglich einerlei. Doch wie gross ist das Unbehagen tatsächlich? Wir haben im Spital Thun nachgefragt, das relativ nahe bei der Stadtkirche steht. Fühlen sich Patientinnen und Patienten in ihrem Ruhebedürfnis gestört und haben sie sich über die Glocken beschwert? Marie-Anne Perrot, Assistentin der Geschäftsleitung bei der Spital STS AG, räumt zwar ein, dass sie keinen abschliessenden Befund stellen könne, aber: «In den Patientenfeedbacks gibt es in den vergangenen sechs Monaten keinen einzigen Eintrag zum Thema Kirchenglocken.» Auch beim städtischen Polizeiinspektorat manifestiert sich das Geläut – zumindest in jüngerer Vergangenheit – nicht als Problem. «In den anderthalb Jahren, die ich nun in dieser Funktion bin, ist mir diesbezüglich nie etwas zu Ohren gekommen», sagt Thuns Polizeiinspektor Urs Wenger. Das gelte auch für den Rest seines Teams. «Bei Partylärm sieht die Lage definitiv anders aus. Da erhalten wir regelmässig Reklamationen.» Selbst wenn sich Anwohnende wegen des Glockenschlags – etwa während der Nacht – beschweren würden, könnte die Stadt dem nicht einfach einen Riegel schieben. «Das Ortspolizeireglement bildet zwar eine gewisse Grundlage gegen Nachtruhestörung, aber ob dies auch auf Kirchenglocken angewandt werden könnte, müssten wir zuerst ansehen», erklärt Wenger. In einem solchen Szenario würde man sicherlich das Gespräch mit der entsprechenden Kirchgemeinde suchen. «Aber wir könnten nicht einfach sagen: ‹Stellt die Glocken ab!›»

Sanierung brachte bei Johanneskirche Besserung


Doch zurück zur eingangs erwähnten Johanneskirche in Thun. «Die Glocken sind im Quartier kein Thema mehr», sagt Oliver Jaggi, direkter Anwohner und im Kirchgemeinderat Thun-Strättligen zuständig für die Kommunikation. Ab 2006 wurde durch eine Sanierung des Glockenturms eine tiefere Lautstärke erreicht; ausserdem half eine Verglasung bei der untersten Glocke, den Ton zusätzlich etwas abzuschirmen. «Heute läutet die grosse Glocke abends um 20 Uhr jeweils ein letztes Mal während rund vier Minuten. Danach ist bis morgens um 7 Uhr Nachtruhe», berichtet Jaggi. Im Übrigen erfolge der Glockenschlag stündlich; geläutet werde sonntags vor der Predigt und am Samstagabend während 15 Minuten. Jaggi war während des Quartierstreits vor bald 20 Jahren einer derjenigen, der sich für die Sanierungslösung als Kompromiss stark machte. «Das hat wirklich etwas gebracht. Nun ist der Glockenschlag akzeptierbar und löst auch in mir ein Heimatgefühl aus.» Teilweise nehme er den Ton nicht einmal mehr bewusst wahr. Dennoch spricht er sich ebenso dezidiert dafür aus, dass Kirchenglocken heutzutage während der Nacht nicht mehr zwingend eingeschaltet bleiben. «Die Nacht soll in erster Linie der Nachtruhe dienen», so Jaggi.

Quelle: Thuner Tagblatt, Gabriel Berger, 06.08.2022