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«Als ich Ernst einmal einen ‹Populisten Gottes› nannte, musste er laut lachen»

Der Stadtzürcher Pfarrer Ernst Sieber war eines der bekanntesten Gesichter der Reformierten. Am Pfingstsamstag ist er im Alter von 91 Jahren gestorben. Freunde und Weggefährten erinnern sich an den Ausnahmepfarrer, der das öffentliche Bild der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten massgeblich mitgeprägt hat.

Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster: «Ernst begleitete mich von Kindesbeinen an. Mein Vater arbeitete mit ihm im Obdachlosenbunker am Helvetiaplatz, wo ich auch als Bub manchmal dabei war. Später als Student prägte er mich mit seinem Denken und Engagement. Drei Dinge hat mich Ernst gelehrt. Erstens: Kirche findet draussen statt. Im Fall von Ernst hiess das auf dem Platzspitz, im Pfuusbus, im Sune-Egge; aber auch im Nationalrat, um eine Stimme für die Hilfsbedürftigen zu sein. Zweitens: Der Mensch in der Not ist der einzige Kompass, an dem sich die Kirche und das Christsein orientieren soll. Ob andere Konfession, fromm, atheistisch, reich, arm, agnostisch oder was auch immer: Diese Kategorien waren ihm unwichtig. Nur der Mensch zählt — und darin spiegelt sich Christus. Von dieser Haltung ist Ernst nie abgerückt. Drittens: Es geht nie alleine. Als Christen sind wir immer Kirche und Gemeinde. Zugleich — und auch da war Ernst für mich immer Vorbild — müssen wir kritisch und prophetisch gegenüber Institutionen sein. Konkret heisst das: Wir müssen auch an der Kirche rütteln und sie immer wieder dazu zwingen, nahe beim Menschen, nahe bei Gott, zu sein. Da stand er voll und ganz in der Tradition von Zwingli. Ernst hat den Glauben in der Öffentlichkeit inszeniert, keine Frage. Er tat dies aber aus der tiefen Überzeugung heraus, dass die Verwandlung des Kreuzes Auftrag ist. Dabei war Ernst ein Hofnarr Gottes, der mit dem Christsein in unserer Gesellschaft ernst gemacht hat. Sein Leben soll uns Reformierte daran erinnern, dass wir diese Tradition weiterhin konsequent verfolgen.»

Markus Gilli, Chefredaktor AZ Medien TV: «Ernst und ich haben uns die letzten vierzig Jahre gekannt. Nicht nur habe ich mit ihm unzählige Weihnachtssendungen gestaltet, er war auch ein enger Freund, der beispielsweise die Abdankung meines Vaters hielt. Nie werde ich das Bild vergessen, das ich damals im Jahr 1980 bei meiner ersten Reportage bei den Zürcher Jugendunruhen sah: Ernst auf der Quaibrücke mit seinem Esel zwischen Polizisten und Demonstranten. So werde ich ihn in Erinnerung behalten: Als einen Pfarrer, der draussen bei den Menschen ist. ‹Ich bin Seelsorger, kein Saalsorger›, sagte er mir mal. Das fand ich wunderbar. Er hat Leute mit seiner Art erreicht, die nicht ansatzweise religiös waren. Er ist dank seiner starken Persönlichkeit bis zum sündhaftesten Menschen durchgedrungen. Eine meiner letzten Begegnungen mit ihm war bei der Aufzeichnung zur Weihnachtssendung 2017, zwei Tage vor Heiligabend in Stallikon bei Zürich. Wir haben einander angeschaut und wussten ohne ein Wort zu sagen, dass das die letzte gemeinsame Weihnachtssendung war. Er hat nochmals die letzten Kräfte mobilisiert. Dies zu spüren, hat mich sehr bewegt.»

Monika Stocker, Stadträtin und Vorsteherin des Zürcher Sozialdepartements von 1994 bis 2008: «Die Haltung von Ernst war immer: Ist ein Mensch in Not, dann muss unbürokratisch gehandelt werden — egal wo ein Mensch seinen Wohnsitz hat. Selbst wenn ich diese Ansicht grundsätzlich teile, so führte sie auch immer wieder zu Konflikten zwischen ihm und mir in meiner Rolle als Vorsteherin des Sozialdepartements der Stadt Zürich. In dieser war es meine Aufgabe, für die in Not geratenen Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher zu sorgen. Ernst aber interessierte sich nicht für Stadtgrenzen: Wer in Not ist, dem musste geholfen werden, Punkt. Und genau für diese kompromisslose Art wurde er von so vielen Menschen geliebt. Auch wusste ich immer, dass wenn Ernst mich mit ‹Schwester Monika, mein Engel…› ansprach, es um Geld ging. Ich fiel ihm dann jeweils ins Wort mit: ‹Ernst, wieviel Geld willst du?›. Einmal kam er mit einer Rechnung zu mir. Eine Seite A4, darauf stand der Betrag von etwas über 800’000 Franken und der Betreff, dass dies die Summe sei, was seine Sozialwerke für die Stadt Zürich geleistet hätten. Wir haben uns dann zusammengesetzt und diskutierten über die Forderung, der wir so natürlich nicht nachkommen konnten. Es waren aber genau solche Provokationen, mit der Ernst auch Hartnäckigkeit in der Sache bewies. Als ich ihn einmal «einen Populisten Gottes» nannte, musste er laut lachen. In Erinnerung wird mir aber auch seine liebevolle Art bleiben. Als ich am Ende meiner Amtszeit politisch stark angefeindet wurde, stand Ernst unverhofft mit einem grossen Strauss Wiesenblumen in meinem Büro und sagte zu mir: ‹Schwester Monika, mach dir nichts draus.› Ernst hat der tüchtigen und puritanischen Stadt Zürich mit seiner Grosszügigkeit und dem bewussten Überschreiten von Grenzen sehr gut getan. Er hat die Herzen angesprochen und nicht nur die Portemonnaies.»

Michel Müller, Kirchenratspräsident der reformierten Kirche Kanton Zürich:
«Ernst Sieber war der Grund, dass ich mich selber als Theologiestudent in Basel in der Gassenküche einsetzte. Ich hatte ihn an einer Weihnachtsfeier gesehen und war von seiner Person beeindruckt. Er fand den richtigen Zugang zu den Menschen. Später in Zürich hatte ich vor allem mit ihm zu tun, als es in der Synode darum ging, seine Sieberwerke zu sanieren. Als Kirchenratspräsident hat er mich immer direkt angerufen, wenn er etwas wollte. Den Ruhestand kannte er nicht. Manche hat er sicher mit seiner Hartnäckigkeit auch ein wenig genervt. Aber man hat eben immer gemerkt, dass es bei ihm um die gute Sache geht. Ernst war für mich der idealtypische Reformierte. Für ihn gehörte das Verkünden und das Politisieren zusammen. Die rechte Tat lag ihm am Herzen. Er war somit auf direkter Linie zu Zwingli — mit dem Unterschied, dass Ernst fast doppelt so alt wurde. Seine Popularität hat er sicher auch dem Umstand zu verdanken, dass er in einer Zeit Pfarrer war, in der die Kirche sehr gross und reich war. Diesen Reichtum hat er gekonnt auf die Schwächsten verteilt. Heute so populär zu werden wie ein Ernst Sieber, ist sicher schwieriger geworden.»

Christoph Zingg, Gesamtleiter der Sozialwerke Pfarrer Sieber SWS: «Für uns war jeder Tag kostbar, an dem Ernst bei uns sein konnte. Er war für mich und andere ein Vorbild, ein kämpferischer Hirt, Theologe und auch Prophet, der Missstände angesprochen hat, ohne gleich Schuldzuweisungen zu machen. Ich habe ihn als jemanden erlebt, der das Leiden von anderen sich zu eigen machte und sich davon hat treffen lassen. Ernst wird mir insbesondere auch als Theologe fehlen. Er war ein starker Seelsorger, der seinen tiefen Christusbezug immer wieder betonte. Innerhalb der Kirche wurde Ernst unterschiedlich wahrgenommen. Manche versuchten ihn zu kopieren, andere haben ihn nicht wirklich verstanden. Eines war aber klar: Kalt hat er niemanden gelassen. Und viele sind nur dank ihm noch heute mit der Kirche verbunden. Auch wenn Ernst nicht mehr da ist, wir werden die Sieberwerke mit seiner Wertehaltung weiterführen.»

Quelle: www.ref.ch, 21. Mai 2018, Andreas Bättig und Oliver Demont